Marianne Rosenbaum

„Frieden ist zärtlich“

Aus der „Berufsschule III“ wird eine Marianne-Rosenbaum-Schule.

Als einzige der drei Straubinger Berufsschulen hatte bisher die Berufsschule III für Floristik, Landwirtschaft und Gartenbau mit den Berufsfachschulen für Kinderpflege, Sozialbetreuer, Ernährung und Versorgung keinen Namenspatron. Die Berufsschule I für gewerblich-technische Berufe erhielt bereits 1968 den Optiker und Physiker Joseph von Fraunhofer als Paten, die kaufmännische Berufsschule II nennt sich seit 1997 nach dem Geologen und Mineralogen Mathias von Flurl. Am 30. November 2012 wird nun der Berufsschule III der Namen „Marianne-Rosenbaum-Schule“ verliehen. Das Lehrerkollegium hat sich nach einem langen und intensiven Entscheidungsprozess „für eine moderne, zeitgenössische Frau“ entschieden, für die Filmmacherin und Künstlerin Marianne Rosenbaum, da sie „durch ihren Einsatz für Frieden und Toleranz das im Leitbild der Schule verankerte Anliegen, die Vermittlung von Werten, widerspiegelt“.

 

 

Als Fünfjährige musste Marianne Worlicek aus ihrer Heimatstadt Leitmeritz in Böhmen, wo sie am 22. Mai 1940 geboren worden war, fliehen und kam in das niederbayerische Sossau bei Straubing. Über ihre neue Heimat urteilte sie später: „Sossau lieb‘ ich noch viel mehr. Hier bin ich nach dem Krieg aufgewachsen, habe das Dorf mit seinen 40 Hausnummern auswendig gekannt. Das war wunderbar. Ich wußte, was in jedem Speicher passiert.“ Bereits während der Schulzeit am Johannes-Turmair-Gymnasium wurde sie von ihrem Kunsterzieher Karl Tyroller gefördert, nach dem Abitur studierte sie Malerei an der Münchner Kunstakademie. 1965 führte sie ein Stipendium der Deutschen Akademie Rom in die renommierte Künstlervilla Massimo. Auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, mit denen sie in die „Köpfe und Herzen“ der Menschen eindringen könnte, wechselte sie vom statischen zum bewegten Bild. Von 1967 bis 1972 erlernte sie an der Prager Filmakademie das Regiehandwerk, „in und zwischen den Manövern des Warschauer Paktes und der Nato“, wurde dann freie Mitarbeiterin bei ARD und ZDF. Zusammen mit ihrem Mann, dem syrischen Filmregisseur Gérard Saaman, gestaltete sie z.B. die bekannte Kinderserie „Neues aus Uhlenbusch“, schuf zahlreiche Dokumentarfilme, unter anderem über Überlebende von Konzentrationslagern oder über Konstantin Wecker, der ihr auch als Filmkomponist zur Seite stand.

 

1982 drehte Marianne Rosenbaum, so ihr Künstlername, in Straubing ihren ersten und zugleich bekanntesten Kinofilm „Peppermint Frieden“. Er erzählt die Nachkriegs- und Besatzungszeit aus der Sicht eines kleinen Mädchens, erlebt von Marianne Worlicek, gespielt von Saskia Tyroller. Die Dorfkinder sind verängstigt von den zurückliegenden Bombenangriffen, leben in der Furcht vor einem neuen Krieg, einem Atomkrieg, sind umgeben von einer leibfeindlichen Doppelmoral: „Wenn den Menschen die Lust genommen wird, wenn die Körperteile, die Lust bringen, zur Tabuzone erklärt werden, suchen sie sich eine negative, sich selbst und andere zerstörende Lust, durch die auch unter anderem Krieg ermöglicht wird.“ Marianne und ihre Freunde, lebenshungrig und neugierig, beobachten die Affäre zwischen Fräulein Nilla, dargestellt von Cleo Kretschmer, und „Mister Freedom“, einem amerikanischen Besatzungssoldaten, gespielt von Peter Fonda. Er beschenkt die Kinder mit Kaugummi: „Der Frieden schmeckt nach Pfefferminz.“

 

„Peppermint Frieden“ wurde viel gerühmt: „ein verträumter und zugleich illusionsloser Schwarzweißfilm“, „politisch präzise und ehrlich“, „sensibel und zugleich aktuell“. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Max-Ophüls-Preis der Stadt Saarbrücken. Beispielhaft drückt er Rosenbaums Kampf gegen jede Form von Gewalt aus, gegen Krieg, Zerstörung und Unterdrückung. Voller Idealismus versuchte sie nicht nur mit den Mitteln der Kunst zu Humanität und Zivilcourage, zur Solidarität mit den Schwachen aufzurufen. Sie wurde selbst aktiv, setzte sich ein für Randgruppen der Gesellschaft, denn: „Wir sind nicht nur Geschichtsträgerinnen, sondern auch Geschichtsmacherinnen.“ So gründete sie zum Beispiel in Straubing eine Bürgerinitiative, um die Lebenssituation der Sintis zu verbessern, stieß hierbei – auch wegen ihrer unbeirrbaren Art – nicht nur auf Wohlwollen.

 

Ihre weiteren großen Filme wie „Sonntagskind oder der Umstände halber“ (1988) nach dem bekannten Kinderbuch von Gudrun Mebs und „Lilien in der Bank“ (1996) mit Georg Thomalla, Katharina Thalbach und Nina Hagen konnten an den Erfolg von „Peppermint Frieden“ nicht anknüpfen. „Ihr poetisch-schwermütiger Stil passte wohl nicht in die immer mehr auf Unterhaltung setzende Filmbranche.“, wie ein Filmkritiker formulierte.
Die Künstlerin, die auch an der Münchner und Potsdamer Filmhochschule unterrichtete und Mitglied der Akademie der Künste in Berlin war, starb nach einer längeren Krebserkrankung am 29. Oktober 1999 in München. Es blieb keine Zeit mehr für ihre Wünsche: „Peppermint Frieden“ mit einem Film namens „Rimini oder die vertagte Zeit“ fortzusetzen, und „dann – dann werde ich nur noch schwimmen, tanzen und lieben“.

 

 

Mit Straubing blieb Marianne Rosenbaum über Freunde verbunden. Zudem hinterließ sie in dem 1963 erschienenen Büchlein „Straubing“, das Marzell Oberneder verfasste und Paul Brenner typographisch gestaltete, Illustrationen, die, „Inbilder, nicht Abbilder der Stadt Straubing“ sind. Den Gegensatz zu dieser bibliophilen Kostbarkeit bildet ihr 1965 geschaffenes monumentales Glasfenster in der Chorscheitelkapelle der Kirche St. Jakob mit dem Thema „Christus, der kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten“. In und mit diesem Fenster  – eine in Blautönen gehaltene Apokalypse, die den Betrachter in Raum und Zeit entführt – hat die Künstlerin ihrem Lebensthema ein zeitlos gültiges Monument gesetzt, ihrer Sehnsucht nach Frieden.

 

Dr. Dorit-Maria Krenn

Rede von Herrn Christoph Boekel anlässlich der Namensverleihungsfeier

Rede von Herrn Christoph Boekel – Teil I

Guten Morgen, mein Name ist Christoph Boekel, und ich bin Filmemacher.

Marianne Rosenbaum und ihren Mann Gérard Samaan habe ich 1973 zu Beginn meines Studiums an der Münchner Filmhochschule kennengelernt. Sie waren beide meine Lehrer und haben uns Studenten bei unseren ersten Film-Schritten mit höchstem  Engagement und liebevoller Zugewandtheit begleitet. Das war man damals als Student nicht gewohnt, und ist es – glaube ich – heute noch weniger.

Das Wesentliche, was man handwerklich über die Filmkunst wissen muss, habe ich von Marianne und Gérard gelernt. Und nicht nur das. In unseren oft nächtelangen Diskussionen ging es immer wieder um die ethisch/moralische Haltung gegenüber dem Filmemachen, um die Integrität der Regisseurin oder des Regisseurs. Mit Film kann viel Schindluder getrieben werden: Manipulation, Verdummung, Propaganda, die Vermittlung eines zynischen Welt- und Menschenbildes – in Deutschland zwischen 1933 und 1945 hat man es erlebt. In unseren Gesprächen ging es um die Verantwortung  gegenüber dem Publikum, der Öffentlichkeit, der Gesellschaft. Von Marianne und Gérard habe ich in diesen Gesprächen ganz Grundsätzliches gelernt, das mich bis heute in meinem Beruf begleitet und mir Orientierung gibt. So soll Lehren und Lernen aussehen.

Deshalb bin ich froh, und stolz darauf, Ihnen anlässlich der Namensgebung Ihrer Schule zu ‚Marianne-Rosenbaum-Schule‘ über meine Lehrerin und Freundin erzählen zu dürfen. Marianne hat mir gegenüber immer wieder über ihre Kindheit und Jugend gesprochen, vieles wusste ich aber nicht. So wurden meine Nachforschungen für diese Rede zu einem spannenden Gang durch die Zeitgeschichte. Und ich habe verstanden, dass Mariannes Lebensthemen, die ihr Kreativität und Stärke gaben, in den Urbildern ihrer Kindheit liegen.

Marianne ist am 22. Mai 1940 in Leitmeritz in Böhmen geboren, mit dem Mädchenname Marianne Worlitschek, erst später nannte sie sich mit Künstlername Rosenbaum – ich werde darauf noch zurückkommen. Worlicek, das ist Alttschechisch und bedeutet so viel wie ‚Adlerchen‘ oder ‚Kleiner Adler‘.

Leitmeritz, an der Einmündung der Eger in die Elbe gelegen, hat eine wechselvolle Geschichte. Bis zum Ende des 1. Weltkrieges, 1918, gehörte es zu Österreich-Ungarn. Es liegt in einem Gürtel, der sich entlang der heutigen Grenze zwischen Deutschland und Tschechien zieht, der damals überwiegend von Deutschsprachigen besiedelt war, 60 Kilometer südlich von Dresden.

Nach dem Zerfall der Donaumonarchie 1918 wurde dieses Gebiet in den neugegründeten Staat Tschechoslowakei eingegliedert und war nun tschechisch. 1938 erzwang Hitler im sogenannten ‚Münchener Abkommen‘ mit England und Frankreich die Abtretung des sogenannten ‚Sudetenlandes‘ an das Deutsche Reich. England und Frankreich, denen die aggressive Aufrüstung in Deutschland nicht entgangen war, wollten Hitler besänftigen und hofften, durch die Abtretung einen drohenden Krieg verhindern zu können. Darin haben sie sich getäuscht. Die Deutschen Armeen haben kurze Zeit darauf ganz Europa mit Krieg, Besatzung und Terror überzogen. Am 1. September 1939 brach der ‚Zweite Weltkrieg‘ aus.

Und hier würde mich Marianne entschieden, mit leichter Schärfe in der Stimme, unterbrechen, ganz sicherlich. ‚Was sagst Du da! Kriege brechen doch nicht einfach aus! Sind denn Kriege Zirkuslöwen, oder Vulkane?! Kriege werden von Menschen gemacht – absichtlich! Geplant, vorbereitet, vorfinanziert! Und durch aufgebaute Feindbilder und Propaganda werden die Leute darauf eingestimmt: damit sie ihren Verstand ausschalten und ihre Gefühle wegknipsen! Krieg bricht nicht aus, Krieg ist ein organisiertes Verbrechen, an dem einige ganz gut verdienen!‘

So war sie.

Marianne ist im Mai 1940 geboren, bereits im Krieg, und die Erlebnisse ihrer Kindheit haben sich tief in ihre Seele eingeschrieben. Vieles davon hat sie in ihrem wohl bekanntesten Film ‚Peppermint-Frieden‘ – einem autobiografischen Kinofilm – später bearbeitet, verarbeitet und künstlerisch umgesetzt.

Zwei Kilometer südlich von Leitmeritz liegt Theresienstadt, ein Ghetto, das die Nationalsozialisten für die verschleppten Juden Europas einrichten ließen. Über 88.000 Menschen wurden von dort in die Vernichtungslager nach Riga und Auschwitz weitertransportiert, im Ghetto selbst starben 35.000 an Unterernährung und Seuchen. Bei Nacht konnte man im nahen Leitmeritz über den Kaminen des Krematoriums von Theresienstadt den Feuerschein aus den Verbrennungsöfen sehen.

Marianne hat ihn gesehen, und den Rauch, der tagsüber aufstiegt.

Den Kindern hat man vorgemacht, es sei dort eine Ziegelei. Marianne hat die Ohren gespitzt und aus den Gesprächen der Erwachsenen – hinter vorgehaltener Hand geführt – erfahren, dass ‚Sie‘ dort Menschen verbrennen.

Diese mysteriösen ‚Sies‘. Damit waren die SS und ihre Schergen gemeint, aber das konnte die damals knapp Fünfjährige natürlich noch nicht wissen und verstehen. Aber eines verstand sie: dass hier was nicht stimmte und die Erwachsenen etwas vor ihr verbergen wollten – und die Unwahrheit sagten. Das ist eines ihrer Lebensthemen geworden.

Die ‚Sies‘. Marianne hatte als Kind einen juckenden Ausschlag an den Händen. Behandelt wurde sie von einem jüdischen Arzt, der dazu täglich ins elterliche Haus kam. Sie liebte ihn sehr, weil er verständnisvoll und phantasiereich im Umgang mit Kindern war. Eines Tages kam er nicht mehr. ‚Wo ist der Doktor?‘ fragt Marianne. Die Großmutter sagt: ‚Ich bin verreist, stand auf seiner Wohnungstüre. Wahrscheinlich haben sie ihn abgeholt.‘ Marianne fragt: ‚Wer hat ihn abgeholt, wo ist er?‘ Der Mutter ist das äußerst unangenehm, man weiß ja nie, was Kinder auf der Straße so plappern. ‚Er ist verreist, hast Du nicht gehört, er ist verreist‘. Marianne: ‚Aber Verreisen ist doch etwas  anderes als Abholen‘. Die Mutter verbietet ihr den Mund.

In ‚Peppermint-Frieden‘ gibt es eine Szene, in der die kleine Marianne mit ihrer Mutter durch Leitmeritz geht. Plötzlich bleibt die Mutter vor einem Schaufenster stehen. ‚Schau, die schöne Auslage!‘ In der Auslage ist nichts zu sehen außer einer alten, umgefallenen Tasche. Aber in der Schaufensterscheibe spiegelt sich etwas. Eine Gruppe völlig ausgemergelter KZ-Häftlinge, denen die Kleider am Leibe schlottern, schleppt sich unter zackiger Bewachung über das Pflaster. Als die Mutter bemerkt, dass Marianne das sieht, hält sie ihr die Augen zu.

Die Häftlinge, die da durch die Straße getrieben wurden, mussten in einem am Ortsrand gelegenen ehemaligen Kalksteinbergwerk Stollen für unterirdische Produktionsanlagen zur Herstellung von Panzermotoren ausbauen. Jugoslawen aus dem KZ Dachau, KZ-Häftlinge aus Flossenbürg, russische Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter aus Holland, Belgien und Frankreich.

Von den 18.000 Häftlingen im Lager Leitmeritz, die ab März 1944 unter unmenschlichen Bedingungen dort zu arbeiten gezwungen wurden, starben, genauer gesagt ‚verreckten‘, etwa 5.000 an Auszehrung durch endlose Arbeitstage bei minimaler Ernährung. Marianne hat sie in der Spiegelung des Schaufensters gesehen. Es hat sie erschreckt und nicht mehr losgelassen.

In Leitmeritz ist 1944 immer mehr vom Krieg zu spüren. Die Luftschutzräume werden nun wohnlich eingerichtet. Und im Februar 1945 wird es sehr unruhig am Himmel über Leitmeritz: hier, an einem aus der Luft gut auszumachenden Punkt, dem Zusammenfluss von Eger und Elbe, treffen sich britische und amerikanische Bomberverbände, um in Formation nach Dresden zu fliegen. Vom 13.-15. Februar dröhnen über Dresden vier Wellen von jeweils bis zu 530 Bomber hinweg und werfen mehr als 790 000 Bomben ab. Dresden, eine Stadt mit 650.000 Einwohnern brannte lichterloh. Im Feuersturm erstickten und verbrannten neueren Forschungen zufolge 25.000 Menschen.

Marianne hat die schwarzen Brandwolken gesehen, nachts den Feuerschein der brennenden Stadt am Himmel. Leitmeritz und Dresden liegen 60 Kilometer auseinander.

Marianne hat selbst einen Bombenangriff erlebt. In dem Büchlein, das sie zu ‚Peppermint-Frieden‘ herausgegeben hat, beschreibt sie ihre Erinnerungen: ‚Wir rannten von einem Keller zum anderen. In einem der Keller saß plötzlich Anna. Saß zwischen den Rennenden und rannte nicht. Rannte nicht, obwohl der Blockwart sie aufforderte, doch bitte weiterzugehen. Saß zwischen Bombenlärm und „Bitte Ruhe bewahren“ mit offenen Augen, so seltsam offen. Ein kleines Blut lief aus ihrer Nase und dem Mund, und als ich sie rütteln wollte, zerrte Mutter mich weg. „Lungen zerplatzt, Lungen zerplatzt“ sagte seltsam lächelnd eine alte Dame immer wieder.‘

Warum ich Ihnen das alles so ausführlich erzähle?

Zum einen, weil ich mir gewiss bin, dass Marianne gewollt hätte, dass an die traumatischen Erlebnisse eines Kindes, die nun 68 Jahre zurückliegen – erst 68 Jahre! – erinnert wird. Als Warnung.

Zum anderen, weil das Erleben der Kriegszeit und des Nationalsozialismus ihr Handeln, ihre Haltung zu Politik und Gesellschaft, und ganz gewiss ihre künstlerischen Ausdrucksformen geprägt haben: ihr Leben.

In einem Interview Anfang der 90er Jahre sagte sie: ‚Im Krieg geboren, bin ich vom Krieg programmiert worden. Wie die meisten aus meiner Generation, reagiere ich immer noch in den Mustern, dass irgendwo etwas Schreckliches seinen Anfang nehmen kann – und nicht zu Unrecht. Nach Tschernobyl war ich wie gelähmt.‘

Ein weiterer Umstand hat Marianne ‚vorprogrammiert‘: die Abwesenheit ihres geliebten Vaters. Er war Lehrer für Gebärdensprache, der Sprache, in der sich Hörgeschädigte verständigen. Ein sanfter, geduldiger Mensch. Er wurde zum Militär eingezogen. Marianne hat ihn in viel zu kurzen Fronturlaubstagen gesehen, geliebt, und ständig vermisst. ‚Fotovater‘ nannte man das damals. Ein Foto auf der Kommode, und die ständige Angst der Mutter, es könne ein Schreiben eintreffen: ‚…ist Ihr Mann im heldenhaften Kampf für Großdeutschland am soundsovielsten gefallen.‘

‚Gefallen‘. Das war auch so ein Wort, das Marianne in Rage bringen konnte: „Du fällst, wenn du zu schnell rennst und stolperst, oder wenn du zu besoffen bist. Aber im Krieg? Da haben Granaten die Menschenleiber zu Fleischfetzen zerrissen, Gewehrkugeln haben sie zu Tode gebracht, sie sind in abgeschossenen Flugzeugen am Boden zerschmettert worden, auf Kriegsschiffen und in Unterseebooten jämmerlich ersoffen, von Flammenwerfern verbrannt worden. Und viele andere Arten hat man sich ausgedacht, um Menschen das Leben zu nehmen. Das nennt man ‚fallen‘?!“

Mit verharmlosender oder lügenhafter Sprache hat Marianne es sehr ernst genommen. Sie hat schon als Kind gespürt und erlebt, dass es oft große Widersprüche zwischen dem gibt, was man selbst erkennen und fühlen kann, und dem, wie darüber gesprochen wird. Diese Widersprüche hat sie immer wieder in ihrer künstlerischen Arbeit dargestellt und aufgezeigt.

In meinem Büro steht ein mannshohes Bild, ein Entwurf, den Marianne nicht zu Ende geführt hat. Mit Bleistift skizziert sieht man einen Mann stehen, die Hände an der Hosennaht, wo das Herz ist, ist eine Zielscheibe, ein Fadenkreuz aufgemalt. Oben drüber hat sie geschrieben: ‚Ich bin der Herr, Dein Gott 1. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben! 2. Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren 3. Gedenke, dass Du den Sabbat heiligst. 4. Du sollst Vater und Mutter ehren. 5. Du sollst nicht töten! Du sollst nur manchmal töten! Du sollst nur auf Befehl töten! Wenn Du einen bestimmten Dienstrang hast sollst Dubefehlen zu töten. Das Hauptgebot der Liebe heißt: Du sollst Deinen Nächsten Lieben wie Dich selbst. (Wenn er genauso für die freie Marktwirtschaft ist wie Du?) 7. Du sollst nicht stehlen. (Ein Grundstück für 50 000.- D-Mark einkaufen und für 750 000.- DM verkaufen ist nicht stehlen.)‘

Daraus spricht der moralischer Rigorismus, der Marianne zu eigen war, und ihr Wille, wenn Anspruch und Wirklichkeit nicht übereinstimmten, den Widerspruch aufzuzeigen und sichtbar zu machen. Das hat nicht immer allen Mitmenschen gefallen: den Leisetretern, Kompromisslern, den Überängstlichen. Die meisten haben es an ihr geschätzt.

Nochmals zurück zum abwesenden Foto-Vater. Nach seinem letzten Fronturlaub 1945 sollte bald ein Jahr vergehen, bis Marianne ihn in Sossau bei Straubing wieder sah – eine lange Zeit für ein Kind. Sie hat ihn zuerst gar nicht erkannt, er war ihr fremd geworden. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr hatte sie fast ausschließlich mit der Mutter und der Großmutter gelebt – vaterlos. In dem bereits erwähnten Interview 1991 sagte sie bitter: ‚Die Männer ziehen in den Krieg, um angeblich ihre Frauen und Kinder zu retten, und zu Hause gehen die Frauen und Kinder kaputt. Als ich meinen Vater gebraucht hätte, als die Bomben fielen, war er weit weg.“

Der Weg von Leitmeritz nach Sossau, das heute zu Straubing gehört, ist nicht mehr genau zu klären. Nachkriegswirren. Sicher ist nur, dass die Mutter, die Großmutter und Marianne  wie die meisten Sudetendeutschen vertrieben wurden. Sie sind irgendwie nach Sachsen in die sogenannte Ostzone gelangt, die russische Besatzungszone.

Marianne hat es so beschrieben: ‚Dann waren wir unterwegs – immer ohne Zuzugsgenehmigung. Unterwegs zum Vater, von dem wir nicht wussten, wo er war. Mutters Füße eiterten, stanken, und der viel zu alte Verband klebte an den laufmaschigen Seidenstrümpfen. Wir blieben; hatten eine kurzfristige Zuzugsgenehmigung, die vielleicht zu verlängern war, ein Zimmer in einer Villa… Mutter und Großmutter schliefen in einem Bett. Ich lag eingerollt in einem viel zu kleinen Gitterbett und versuchte mich wegzuträumen. Und manchmal, wenn ich viel Hunger hatte, träumte ich sogar von Torten. Meistens aber träumte ich von Fallschirmseide, die ich den ganzen Tag zusammenknotete, damit Mutter daraus Taschentuchbehälter häkeln konnte, mit denen wir Geld verdienten.‘

Man kann sich das Flüchtlingselend heutzutage kaum mehr vorstellen. Viel zu wenig Wohnraum in ausgebombten, von Menschen überfüllten Städten, unzureichende Lebensmittelrationen, elende hygienische Bedingungen – und die ständige Ungewissheit, was kommen wird.

Auch das hat Marianne geprägt. Auf eine mir sympathische Weise. Sie hat aus Überzeugung sehr bedürfnislos gelebt, heute würde man sagen ‚ökologisch‘, oder ’nachhaltig‘. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals ein neues Möbelstück gekauft hätte. Alles stammte von Hausratssammelstellen oder vom Sperrmüll, wurde umgebaut, eingepasst oder mal schnell gestrichen. Sie fand die alten Sachen schöner, und verstand überhaupt nicht, warum man Brauchbares wegwerfen und für modisches Neues Bäume fällen soll. Auch die Haushaltsgeräte waren meist second hand. Mit Lebensmitteln ist sie sehr sorgsam umgegangen, wie viele Menschen, die Hunger und Unterernährung kennen.

Rede von Herrn Christoph Boekel – Teil II

Nochmals zurück. Im Winter 1945/46 kommt plötzlich ein Brief. Die Großmutter gibt ihn zitternd der Mutter und weint vor Freude ’seine Schrift‘, ’seine Schrift‘. Die Mutter: ‚Der Vater lebt…  hat sogar eine Stelle…. in Niederbayern in der amerikanischen Zone, wo es ganz viel zu essen gibt.‘

‚Dann – so schreibt Marianne – waren wir wieder unterwegs. In einem überfüllten, verplombten Viehwaggon, verschlossen, damit niemand zusteigen konnte, denn alle wollten in die amerikanische Zone.‘

Zehn Tage dauerte die Fahrt, als Klo diente ein Kochtopf, dessen Inhalt durch eine Lucke hinausgekippt wurde. Nach 10 Tagen Endstation in Straubing. Die amerikanische Militärregierung hilft beim Weitertransport nach Sossau, zum Vater.

Straubing, kurz nach dem Krieg. Durch Luftangriffe waren 313 Gebäude völlig zerstört, 290 schwer beschädigt. Etwa ein Drittel des Wohnraumes war vernichtet. Dazu kamen nun etwa 8.000 Heimatvertriebene, die in einer Stadt untergebracht, verpflegt und integriert werden mussten, die selbst nichts mehr hatte. Die Tagesration eines Erwachsenen betrug damals: 3 Scheiben Schwarzbrot, ¼ Liter dünner Kaffee, ½ Liter Suppe mit Rübenschnitzeln und ¼ Liter Kräutertee. Die Integration so vieler Menschen war eine enorme Leistung, die der Stadt Straubing zu hohen Ehren gereicht. Marianne war ‚ihrer‘ Stadt immer sehr dankbar. Sie hat sich zeitlebens als waschechte Straubingerin gefühlt.

1947 kommt Marianne in Sossau in die Schule. Wie damals oft üblich, eine zweiklassige Volkschule: Klasse 1-4 und Klasse 5-8 werden von je einer Lehrkraft gemeinsam unterrichtet. Die Sossauer Zeit, also die ersten Jahre nach Kriegsende, hat Marianne in ihrem Film Peppermint-Frieden festgehalten, aus ihrer Perspektive als Kind. Ihre Gefühle, ihre Ängste. Der kriegstraumatisierte Vater schreit im Schlaf unter Albträumen, ein amerikanischer Besatzungssoldat hat eine verbotene Liebschaft mit der Dorfschönen und wird von der Militärpolizei abgeführt, der Vater eines Spielkameraden hat keine Hand mehr sondern eine Prothese mit einem Haken dran, der Dorfpfarrer erschreckt die Kinder mit der Sünde der Unkeuschheit und der Syphilis, und nach Beginn des Krieges in Korea 1950 überfällt die damals 10jährige Marianne eine wahnhafte Angst vor einem Atomkrieg. Mehr verrate ich jetzt nicht, denn ich bin sicher, dass dieser Film an der Marianne-Rosenbaum-Schule immer wieder mal gezeigt werden wird.

Die Familie zieht von Sossau nach Straubing, Marianne kommt aufs Humanistische Gymnasium. Sie ist eine gute und begabte Schülerin. Zwei Erlebnisse während ihrer Schulzeit haben die Weichen für ihr zukünftiges Leben gestellt. Das Eine: ‚Wahlzeichnen‘ bei Karl Tyroller. Der Zeichenlehrer Tyroller gab wöchentlich einen ganzen Nachmittag seiner Freizeit, um künstlerisch begabte Kinder zu fördern. Er unterrichtete sie in allen Maltechniken, bei Ausflügen an die Donau in Landschaftsmalerei, Zeichnen mit Modellen, sogar Freskotechniken wurden gelehrt. Marianne durfte ab ihrem 12. Lebensjahr bis zum Abitur am Wahlzeichnen teilnehmen. Sie hat Herrn Tyroller sehr verehrt. Er muss ein mitreißender Pädagoge gewesen sein.

Eine Mitschülerin, die zusammen mit Marianne das ‚Wahlzeichnen‘ besuchte, erzählte mir vom gestalterischen Willen Mariannes mit bereits 15 oder 16 Jahren. Marianne habe sämtliche Möbel der elterlichen Wohnung weiß gestrichen, das habe toll ausgesehen, und, was für die damalige Zeit besonders außergewöhnlich ist: die Eltern haben es erlaubt.

Das zweite Erlebnis: Die Schulvorführung des dokumentarischen Films ‚Nacht und Nebel‘ des französischen Regisseurs Alain Resnais. Es ist ein bedrückender Film über die Konzentrationslager der NS Zeit, der erste Film, der in Deutschland nach langem Beschweigen des Massenmordes aufgeführt wurde. Marianne hat ihn mit 18 oder 19 Jahren gesehen. Später erklärte sie in einem Interview: ‚Dieser Film griff in mein Leben ein. Da teilte sich mein Leben in Davor und Danach.‘

Der längst vergessene Rauch und Feuerschein über den Kaminen von Theresienstadt bekam nun eine reale Deutung, eine neue Dimension. Marianne verstand jetzt, was in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Geburtsstadt Leitmeritz geschehen war.

Nach dem Abitur macht Marianne die Aufnahmeprüfung an die ‚Akademie der bildenden Künste‘ in München. Die Straubinger Familie Tyroller ist heute noch stolz darauf, dass Karl Tyrollers Anstrengungen mit seinem Kurs ‚Wahlzeichnen‘ 1960 den prozentual höchsten Anteil der Studenten aus bayerischen Städten an der Akademie erreichte. Marianne wurde in die Klasse des renommierten Malers, Zeichners, Karikaturisten und Glasmalers Professor Josef Oberberger aufgenommen, er selbst war vormals  Meisterschüler Gulbranssons.

Schon während ihres Studiums hat Marianne Ausstellungen gemacht, Aufträge als junge Künstlerin bekommen und als Bühnenbildnerin und Ausstatterin an Theatern gearbeitet. Sie hat das Studium 1965 sowohl mit einem Diplom als auch dem Staatsexamen abgeschlossen, sie hätte also als Lehrerin in den Staatsdienst gehen können.

Doch sie hat sich auf das unsichere Terrain des Künstlerseins begeben.

Schon während des Studiums hatte sie sich um einen Auftrag bemüht – und hat ihn bekommen: die Gestaltung eines Glasfensters von St. Jakob. Bei den Bombardierungen Straubings wurden wertvolle Fenster zerstört. Eines davon hat Marianne 1965 neu gestaltet. Es ist eine Mahnung vor Krieg und Gewalt. Da war sie 25 Jahre alt. Sie kennen das Kirchenfenster, es ist auf der Einladung zum heutigen Tag abgedruckt.

Über Marianne als Malerin zu sprechen, fällt mir in diesem Zusammenhang schwer. Dazu müsste ich mehr Ablichtungen der Gemälde haben, die sich noch im Besitz ihrer Tochter befinden; die sind aber zurzeit unerreichbar eingelagert. Und natürlich hat Marianne in den 60er, 70er und 80er Jahre viele ihrer Bilder verkauft. Damals konnte man nicht wie heute mal schnell vorher ein Digitalfoto machen. Dennoch, ein paar Bilder kann ich Ihnen zeigen.

Ich will folgendes anregen: könnte man nicht in absehbarer Zeit in Straubing eine Ausstellung mit Mariannes malerischem Werk auf die Beine stellen? Ich und die anderen Freunde werden dabei gerne helfen.

1965 bewarb sich Marianne beim Deutschen Akademischen Austauschdienst um ein Stipendium für einen zweijährigen Studienaufenthalt in Rom, um die Malerei zu vertiefen. Sie hat dort auch an der Villa Massimo gearbeitet, der deutschen Akademie in Rom. Und sie machte ein Volontariat bei dem Kinoregisseur, Schauspieler und Drehbuchautor Pietro Germi. Der Name sagt heute wohl kaum jemand mehr etwas, aber die Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht noch an den Film ‚Scheidung auf Italienisch‘ mit Marcello Mastroianniin der Hauptrolle. Der Film brachte Germi einenOscar für das beste Drehbuch und eine Oscar Nominierung für die beste Regie ein.

In Rom  entdeckt Marianne den Film für sich. Aber lassen wir sie selbst sprechen: „Ich hatte für zwei Jahre ein Stipendium für Kunst in Italien. Dabei habe ich entdeckt, dass mir die statischen Bilder nicht reichen. Ich hatte vorher immer schon Serien gemalt mit Bildinhalten, die über den Rahmen hinausgehen. Immer schon habe ich geschrieben,  Geschichten und auch Gedichte, und habe mir eine Komplexität von allen Kunstarten zusammen gewünscht. Diese Komplexität  bot die Kunstakademie nicht, jede Abteilung war für sich, die Architekten waren für sich, die Maler und die Glasfenstermacher. Ich habe mir immer gewünscht, eine Einheit herzustellen, bin von einer Abteilung zur anderen gegangen und musste merken, dass es das in der Realität noch nicht gibt. Aber im Film gibt es diese Komplexität, dass Töne, Sprache, Bilder, Musik und Gebäude miteinander eine Ganzheit bilden. Ich habe dann in Italien die Regisseure und Filme der neuen tschechischen Welle kennengelernt. Und ich spürte, dass manche dieser Filme genau meiner Vorstellung entsprachen. Ich beschloss nach Prag auf die Filmschule zu gehen, ja, und dort war ich die einzige Westdeutsche, und die einzige Frau in meiner Klasse.“

Die FAMU in Prag galt seinerzeit neben der VGIK in Moskau als eine der besten Filmhochschulen der Welt. Dort konnte man nicht mal eben so studieren. Man musste großes Talent mitbringen und eine schwierige, mehrstufige Aufnahmeprüfung durchlaufen. Marianne hat tschechisch gelernt und hat es geschafft. Für das fünfjährige Studium hat sie 1967 ihr zweites Stipendium vom Deutschen Akademischen Austauschdienst bekommen. In Prag hat sie den Syrer Gérard Samaan kennen und lieben gelernt. Er studierte in derselben Klasse ebenfalls Regie. Ihr gemeinsamer Lehrer war Elmar Kloss, der 1965 den Oscar für den besten fremdsprachlichen Film bekommen hatte. Die beiden haben ihre Übungsfilme meist zusammen gemacht. Ihren Abschlussfilm mit dem phantasiereichen Titel ‚Wie der kleine Herr Soldat Joseph Neudenk die Logik vom Sonntag mit der vom Montag verwechselte‘ hat Marianne 1972 übrigens in Straubing im ehemaligen bischöflichen Knabenseminar gedreht. Ich habe den Film leider nie gesehen.

Rede von Herrn Christoph Boekel – Teil III

1970 haben Marianne Worlitschek und Gérard Samaan geheiratet, und weil es in Deutschland damals schon allein wegen der Papiere noch recht kompliziert war, einen Syrer zu heiraten, und in Prag auch nichts zu machen war, haben die beiden im südenglischen Seebad Brighton geheiratet.

Ab 1970 hat Marianne bereits als freie Mitarbeiterin fürs ZDF und den Bayerischen Rundfunk gearbeitet um sich zum Studium noch etwas zuzuverdienen.

Nach dem Studienabschluss 1972 in Prag haben Marianne und Gérard bis 1976 als Dozenten für Filmsprache und Bildgestaltung an der Hochschule für Fernsehen und Film in München unterrichtet und lebten zu dieser Zeit bereits in München. Da habe ich sie kennengelernt, und wir wurden Freunde. Sie haben die beiden ersten Übungsfilme begleitet, die Beate Rose, ich und andere mit gedreht haben, und das haben sie ganz offensichtlich sehr gut gemacht: der erste Film, eine Gruppenproduktion von drei Mitstudentinnen und mir mit dem Titel ‚Zum Beispiel: Geschirrherstellung‘, ein Dokumentarfilm über den Prozess der Keramikherstellung und die Nöte der Akkordarbeiterinnen und -Arbeiter in einer Porzellanfabrik, wurde auf ein großes Filmfestival eingeladen und wurde vom WDR in Köln angekauft und gesendet. Das hatte es mit einem Erstlingsfilm bis dato nicht gegeben.

Der Deutsche Akademische  Austauschdienst hatte Marianne zwei Mal bei ihrer Aus- und Weiterbildung unterstützt, und so war selbstverständlich für sie, nun auch etwas für diese Einrichtung zu tun. Von 1972 bis 1975 war sie Mitglied der Jury für Bildende Kunst und Film, die über die Vergabe von Förderstipendien entschied.

Zwischen 1972 – dem Jahr des Olympia- Attentats in München auf israelische Sportler durch die palästinensische Terrororganisation ‚Schwarze September‘ – und 1976 hat Marianne mit ihrem arabischen Ehemann Gérard und der israelischen Regisseurin und Kamerafrau Nurith Aviv an einem Drehbuch mit dem Titel ‚Kajs Romeo Salam und Julia Recha Schalom‘ gearbeitet. Zu Deutsch: ‚Kajs Romeo Frieden und Julia Recha Frieden‘ – ein programmatischer Titel. Eine Liebesgeschichte zwischen einem Araber und einer Israelin, in der die Feindschaft zwischen Arabern und Juden durch Einsicht und Liebe beispielhaft aufgelöst wird. Ein Film also, der gemeinsam von einem Araber, einer Jüdin und einer Deutschen geschaffen werden sollte, schon allein das sollte Aussöhnung und gemeinsame Arbeit für eine friedliche Zukunft symbolisieren.

Versöhnung, das war eines der Lebensthemen Mariannes, das immer wieder Raum in ihren Filmen einnahm. Sie hat dazu einmal gesagt: „Ich kann mit den Begriffen Schuld und Unschuld nichts anfangen. Mich interessiert: warum tut jemand etwas oder warum tut er es nicht. Ich versuche, in meinen Filmen nicht zu zeigen, wer ist der Böse, wer hat alles kaputtgemacht, sondern: wie können wir gemeinsam – egal, welche Vergangenheit wir hatten – in der Gegenwart etwas für die Zukunft tun. Dass unsere Kinder in Zukunft weiterleben können. Es sind ja lange Zeit Filme gemacht worden, die immer nur Schuldige gesucht haben. Zum Beispiel Krimis, die die Medien beherrschen, sind immer auf dem Muster von Schuldsuche aufgebaut: als ob die Welt nur aus Opfern und Tätern bestünde. Ich glaube, die Zeit für solche Räuber- und Gendarmgeschichten ist vorbei. Denn wir wissen mittlerweile, dass wir alle im selben Boot sitzen.“

Der Film ‚Kajs Romeo Salam und Julia Recha Schalom‘ konnte nie realisiert werden, die Finanzierung kam nicht zustande. Vermutlich, weil den Fernsehgewaltigen das Filmprojekt zu weltfremd und zu utopisch erschien.

Utopie: Darin sah Marianne eine große schöpferische Kraft. Eine Kraft, mit der die Menschen die Zukunft beeinflussen können. Sie war der Überzeugung, dass alles, was man sich vorstellen kann, in der Zukunft Wirklichkeit werden kann, wenn man sich dafür einsetzt, jeder einzelne – gemeinsam mit vielen anderen. Versöhnlich. Und kämpferisch, wenn es darum geht, die Herzen und den Verstand der Menschen für eine gemeinsame,  gerechte Zukunft zu gewinnen.

Für diese Haltung ist sie oftmals als Moralistin und unverbesserliche Welt-Erretterin belächelt worden. „Du kannst doch eh nichts ändern, das war doch schon immer alles so, wie willst Du da was ändern?“ Das hat sie oft zu hören bekommen. Sie hat insistiert: ‚Wichtig ist, dass wir uns über unsere Visionen von der Zukunft klar werden. Wenn wir sagen, die da oben bestimmen sowieso alles, schwächen wir uns.“ Das war Mariannes Glaubensbekenntnis  für bürgerschaftliches, demokratisches Handeln.

So hat sie sich in den 70er Jahren der Anti-Atomkraftbewegung angeschlossen. ‚Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv‘ lautete ein Slogan dieser sozialen Bewegung, die vor den Gefahren der zivilen Nutzung der Atomenergie warnte. Damals rechneten die Manager der Atomindustrie der Bevölkerung vor, statistisch gesehen könne sich ein größter anzunehmender Unfall in einem AKW höchstens ein Mal in zwei Millionen Jahren ereignen. Dann wären seit Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima nunmehr sechs Millionen Jahre vergangen. Utopisten wie Marianne, die für einen sofortigen Ausstieg aus der Atomtechnologie und eine grüne Energiepolitik eintraten, wurde damals höhnisch unterstellt, sie wollten die Gesellschaft in die Steinzeit zurückwerfen. Heute ist Mariannes Utopie in Deutschland regierungsamtliche Politik. Die Argumente gegen die Nutzung der Atomenergie und für eine Energiewende haben sich durchgesetzt.

Und selbstverständlich hat sich Marianne zu Beginn der 70er Jahre der damals neu entstandenen Frauenbewegung angeschlossen. Frauenbewegung? Man muss sich in Erinnerung rufen, dass in Deutschland das Wahlrecht für Frauen erst 1918 eingeführt wurde, und erst 1949 wurde die Gleichstellung von Frauen und Männern in Beruf und Gesellschaft im Grundgesetzt verankert.

Die Realität sah aber anders aus, zu tief steckten tradierte Rollenmechanismen in den Verhältnissen zwischen den Geschlechtern. Darauf machten engagierte Frauen wie Marianne aufmerksam und forderten ihre Rechte ein. Sie haben damit in den vergangenen Jahrzehnten einiges erreicht. Inzwischen ist es selbstverständlicher, dass es erfolgreiche Regisseurinnen gibt, Kamerafrauen, Frauen, die Betriebe führen oder U-Bahnen durch die Tunnel lenken. Und es gibt immer mehr Männer, die von der Möglichkeit der Elternteilzeit Gebrauch machen.

Marianne hat für die Rechte der Frauen gekämpft, aber sie wollte nie, dass Frauen nun noch bessere, noch effektivere und noch erfolgreichere Männer werden. Sie glaubte daran, dass Frauen aus der Geschichte unserer Zivilisation etwas mitbringen, das Männern, in anerzogener Konkurrenz, fehlt. Sie wollte nicht nur Gleichstellung und gerechte Aufgabenverteilung, die es Frauen ermöglichen, sich zu entfalten, sie wollte eine wärmere Gesellschaft. Eine Welt, in der Frauen und Männer gemeinsam an Strukturen für die friedliche und gerechte Zukunft ihrer Kinder und kommender Generationen arbeiten.

Utopien brauchen Zeit, um in die Realität einzudringen, das wusste Marianne auch.

Bürgerschaftliches Engagement. 1975 reist Marianne, bereits hochschwanger, immer wieder von München nach Straubing in die elterliche Wohnung. Sie engagiert sich in einer Bürgerinitiative, die sich für den Erhalt historischer Bauten im westlichen Stadtzentrum Straubings einsetzt, die im Zuge einer Stadtsanierung abgerissen werden sollen. Teils gotische Bauten, ganze Gassen mit kleinen Handwerksbetrieben und Läden sollen der Abrissbirne zum Opfer fallen. Marianne liebt dieses Ensemble und wehrt sich dagegen, dass ein gewachsenes Viertel geschleift und mit Gebäuden verbaut werden soll, die höhere Renditen versprechen. Im Zuge des Protests entsteht in Zusammenarbeit mit der Bürgerinitiative ein Film mit dem Titel ‚Leibbrandplan‘. Leibbrand war der Name des beauftragten Stadtplaners. Ich habe diesen Film leider nie gesehen. Es könnte lohnenswert sein, nach dem Verbleib zu forschen, der Film ist gewiss ein interessantes Dokument der Straubinger Stadtgeschichte. Er ist seinerzeit im Bayrischen Fernsehen gezeigt worden.

Im November 1975 wird die Tochter Nurith-Hayat geboren. Nurith ist ein hebräischer, ein israelischer Name und bedeutet ‚Lichtblume‘, Hayat kommt aus dem Arabischen und heißt übersetzt ‚Leben‘. Marianne und Gérard wollten mit dieser Namensgebung symbolisch ein Zeichen für die Aussöhnung der Israelis, der Palästinenser und der arabischen Welt setzen. Das war beiden ein Herzensbedürfnis.

Nurith ist die Patentochter von Beate Rose und mir, nicht mit Taufe oder Papieren, Marianne und Gérard haben uns einfach gefragt, ob wir die Paten sein wollen: ‚Ja‘, und so ist es geblieben.

Marianne erlebt nun die Doppelbelastung als berufstätige Frau und Mutter. Gérard hilft, wo er kann. Er wechselt Windeln, man teilt sich die Zeit, aber alles kann man nicht teilen, zum Beispiel das Stillen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Gérard einmal empört sagte ‚es ist einfach ungerecht, dass Männer keine Milch haben!‘

Nurith-Hayat ist überall mit dabei. Im Schneideraum döst sie in einem Tuch an Gérards Brust, während Marianne an Drehbüchern arbeitet. Und 1977 ist sie bei den Dreharbeiten zu der legendären ZDF-Kinderserie ‚Neues aus Uhlenbusch‘ in der Lüneburger Heide mit dabei – ein richtiges Filmkind. Später hat sie in Mariannes Filmen auch Rollen übernommen.

Für ‚Neues aus Uhlenbusch‘ hat Marianne an den Drehbüchern mitgeschrieben und gemeinsam mit Gérard Regie geführt. Ich war damals Regieassistent, und ich war sehr beeindruckt, wie Marianne mit Kindern umgehen konnte, die ja die Hauptdarsteller waren. Kinder zu inszenieren ist eine große Kunst. Und ich erinnere mich, dass Marianne in den meisten der Filme – wir drehten damals sechs Teile – jeweils ein behindertes Kind mitspielen ließ, übrigens auch in ihren späteren Filmen. Sie war der Überzeugung, dass Behinderte, ob sie nun eine Hasenscharte haben, an Dow-Syndrom leiden, sprachgestört sind oder schielen, zum Leben dazugehören und deshalb ganz selbstverständlich in Filmen, besonders in Filmen für Kinder, einen Platz haben müssen. Das hat mich sehr beeindruckt, weil die Welt dadurch nicht so heil war, wie sie in Kinderfilmen gerne dargestellt wird.

Bürgerschaftliches Engagement, 1979. Marianne ist Mitinitiatorin einer Initiativgruppe, die die bedrückenden Zustände im sogenannten ‚Zigeunerlager‘ in Hennenwöhrd – am gegenüberliegenden Donauufer vor den Toren Straubings gelegen – öffentlich anprangert und eine Verbesserung der Lebensumstände der dort lebenden Sinti verlangt. Die Bewohner des Lagers leben in feuchten und schimmligen Baracken aus der Kriegszeit, die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, in den Unterkünften gibt es keine Wasserstellen, bei Regen verwandelt sich das Gelände in einen Morast, in dem die Kinder bis zu den Kniekehlen im Schlamm versinken. Die meisten Kinder müssen die Sonderschule besuchen, da ihnen durch mangelnde Förderung die sprachlichen Voraussetzungen für die übliche Grundschule fehlen. Die Initiativgruppe stellt einen wohlbegründeten Antrag an die Stadt mit der Aufforderung, die Missstände abzuschaffen. Das Straubinger Kollegium Musicum unter Gerold Huber veranstaltet ein Konzert, um auf die Situation in Hennenwöhrd hinzuweisen. Marianne wendet sich an das ‚Straubinger Tagblatt‘, beschreibt die Zustände und macht Vorschläge, was alles getan werden kann und soll. Die Initiative hat Erfolg. Es werden auf dem Gelände ordentliche Häuser gebaut, die in Hennenwöhrd lebenden Sinti werden als Arbeiter beim Bau ihrer neuen Wohnungen einbezogen und dafür entlohnt. Marianne hat 1979 dem Straubinger Tagblatt folgendes gesagt: ‚Integration ist nicht durch Trennung der Familien und Unterbringung in Wohnsilos möglich, sondern durch schrittweises Einbeziehen der Zigeuner in unsere Gesellschaft.‘ So ist es auch gekommen. Durch das schrittweise Einbeziehen unter verbesserten Lebensbedingungen ist die Siedlung in Hennenwöhrd inzwischen aufgelöst worden – viele der Bewohner empfanden mit der Zeit, dass sie in einem Ghetto leben. Heute wohnen sie, über die Stadt verteilt, in Straubing in üblichen Wohnungen – wie andere Mitbürger auch.

Die Sinti aus Hennenwöhrd haben in mehreren Filmen Mariannes als Musiker mitgewirkt und mitgespielt. Sie hat immer Menschen ihrer Umgebung in ihre Arbeit miteinbezogen.

Rede von Herrn Christoph Boekel – Teil IV

Zwischen 1977 und 1980 hat Marianne mit der Kamera Gespräche mit Zeitzeugen aufgezeichnet, die die Konzentrationslager Theresienstadt, Dachau und Auschwitz überlebt hatten. Eine Jüdin, ein Kommunist, ein Zigeuner. Ich meine, der Arbeitstitel habe ‚Straubing und die ganze Welt‘ gelautet, aber vielleicht verwechsle ich da etwas, das ist ja schon eine Zeit her. Der Film ist meinem Wissen nach nie fertiggestellt worden. Vermutlich hat das Thema ‚Konzentrationslager‘ damals in den Fernsehanstalten noch niemand so recht interessiert, zu viele Mittäter, Mitwisser und Mitverantwortliche waren ja noch am Leben. Ganz sicher dienten diese Erlebnisberichte Marianne als Vorarbeiten zu ihrem Film ‚Peppermint-Frieden‘. Was hinter den Stacheldrahtumzäunungen der Lager geschehen war, wollte sie genau wissen und sich vorstellen können.

Während der Arbeiten am Drehbuch zu Peppermint-Frieden änderte Marianne ihren Namen von Marianne Samaan-Worlitschek in Marianne S.W. Rosenbaum – ein Künstlername. Sie war bei Recherchen auf einen entfernten jüdischen Vorfahren dieses Namens gestoßen. Und wie bei allem, was sie tat, steckte auch hinter diesem selbstgewählten Namen eine entschiedene Aussage. Sie wollte mit dem Namen Rosenbaum ihr Mitgefühl und ihre Solidarität mit den während der Nazizeit ausgegrenzten, verfolgten und ermordeten Juden zum Ausdruck bringen und mit dem selten gewordenen Namen daran erinnern, dass einstmals in Europa Millionen Juden lebten, die vor ihrer Ermordung ihrer Namen beraubt und mit auf die Haut tätowierten Nummern entmenschlicht wurden. Nummern.

Sie wählte den Namen auch des Bildes und des Klanges wegen. Rosenbaum – ein Baum voller Rosen. Das gibt es natürlich nicht, aber vorstellen kann man sich einen solchen Baum schon. Blumen, Rosen mochte Marianne sehr, sie hat damit immer die Wohnung ausgeschmückt. Und zu Bäumen hatte sie eine besondere Beziehung: weil sie Ruhe und Kraft ausstrahlen. So hieß denn auch die gemeinsame Produktionsfirma, die Marianne, Gérard, Beate Rose und ich 1978 gegründeten ‚Baum-Film‘, ein Vorschlag Mariannes. Und so heißt meine Firma noch heute.

1982 also ‚Peppermint-Frieden‘. Marianne hatte mir im Vorjahr die Regieassistenz angeboten. Ich sagte zunächst zu, die Finanzierung des Films war aber noch ungewiss und verzögerte sich, deshalb habe ich eine Dozentenstelle an der Berliner Filmakademie angenommen. Im Nachhinein schade, gerne hätte ich mit Stars und Schauspielern wie Peter Fonda, Cleo Kretschmer, Hans Brenner, Konstantin Wecker und Siggi Zimmerschied zusammengearbeitet, aber ich hatte einen Vertrag mit der Filmakademie.

Marianne wollte Fonda unbedingt für eine der Hauptrollen in ‚Peppermint-Frieden‘: den Mister Frieden, einen in der Straubinger Garnison stationierten amerikanischen Besatzungssoldaten, der eine verbotene Liebesbeziehung mit einem deutschen ‚Fräulein‘ in Sossau hat. Sie wollte ihn nicht nur als internationalen Star und Zugpferd für den Film: sie hielt ihn für die beste Besetzung. Das hat sich bewahrheitet, aber der Weg war nicht einfach. Wie kommt man an einen Hollywood-Star heran und überzeugt ihn, in Straubing, genauer gesagt in Sossau, bei einem Film mitzuspielen? Marianne hat es geschafft. Ich erinnere mich, wie sie eines Tages ganz begeistert war: ‚Ich habe gestern mit ihm telefoniert, der macht mit!‘ Auch über das Honorar konnte man sich einigen – Stars sind ja normalerweise teuer. Peter Fonda bekam ein in Bayern hergestelltes schweres Motorrad als Gage. Und drehte in Sossau mit deutschen Schauspielen und mit Laien aus Mariannes Straubinger Umfeld. Aber was heißt da Laien! Ganz hervorragend und zu Herz gehend zum Beispiel Saskia Tyroller in der Hauptrolle als kleine Marianne, da mussten sich die Profis ordentlich anstrengen!

Peppermint-Frieden wurde ein großer Erfolg. Er bekam etliche Preise auf internationalen Festivals, und allein in München lief der Film 31 Wochen im Kino. Hier eine kleine Auswahl der durchgehend begeisterten Filmkritik. Der Londoner Guardian schrieb: ‚Einer der besten deutschen Filme des Jahres, mit Peter Fonda in einer der interessantesten Rollen, die er sein langem hatte. Die Kinder sind großartig‘.

Der Züricher Tages-Anzeiger: ‚Ein verträumter und zugleich illusionsloser Schwarzweißfilm, einer der erstaunlichsten Erstlinge aus der BRD seit langem‘.

Gunnaer Bergdahl von Stockholms Tidningen: ‚Den besten Film der Berliner Filmfestspiele habe ich abseits der Wettbewerbsfilme gefunden. Es war der unglaublich reife Debutfilm ‚Peppermint-Frieden‘ von Marianne Rosenbaum‘.

Und der Stern schrieb: ‚böse, genau und liebevoll komisch…die wichtigste deutsche Kinopremiere seit langem‘. Die französische Fachzeitschrift Cinéma: ‚Seit dem Tod Fassbinders haben wir keinen so originellen und intelligenten deutschen Film mehr gesehen‘.

Der Film traf mit seiner Thematik – Mariannes autobiografisch erzählten Kriegs- und Nachkriegserlebnissen – den Nerv des Publikums. Es war die Zeit der Friedensbewegung, ausgelöst durch einen Beschluss der Nato, des westlichen Verteidigungsbündnisses. Vergessen wir nicht: damals herrschte noch Kalter Krieg, der sogenannte Eisernen Vorhang trennte unüberwindlich die Länder Ost- und Westeuropas.

Die Nato hatte 1979 beschlossen, gegenüber der Sowjetunion in Westeuropa mit Atomsprengköpfen ausgestattete Raketen und Marschflugkörper zu stationieren. Eine Protestwelle durchzog Westdeutschland und Westeuropa, es kam zu zahllosen Demonstrationen. Allein am 10. Oktober 1981 demonstrierten 300.000 Menschen gegen die sogenannte ‚Nachrüstung‘ in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. Ein Jahr später, am 10. Juni 1982, waren es 400.000.

Durch ihre Kindheitserfahrung war es für Marianne ganz selbstverständlich, nein, ich muss sagen zwingend, sich der Friedensbewegung anzuschließen. Die traumatischen Kriegserlebnisse, ihre kindliche, aber deshalb nicht unbegründete Angst vor einem Atomkrieg zu Beginn des Koreakrieges 1950, hatten sich tief eingeprägt. Die Sorge um die Zukunft ihrer Tochter, aller Kinder, schrie nach Handeln. Sie hat mitdemonstriert, saß auf Diskussionspodien, hat die Menschen in ihrem Umfeld darauf angesprochen, wie wichtig es doch ist, abzurüsten statt aufzurüsten. Dass die Aber-Milliarden, die in die Rüstung fließen, gegen den Hunger der Welt eingesetzt werden müssen, dass die Menschen endlich zur Vernunft kommen müssen.

Marianne hat ihre Kriegsangst umgewandelt in Engagement und Energie für den Frieden. Frieden, das bedeutete für sie nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern immer auch soziale Gerechtigkeit und Ausgleich. Davon sind wir noch ziemlich entfernt.

Aber hat sich nicht doch etwas bewegt? Tschechien, das Land, aus dem Marianne 1945 vertrieben wurde, ist heute Mitglied der Europäischen Union. Der Eiserne Vorhang ist gefallen. Europa, dessen Länder und Völker sich in vergangenen Jahrhunderten sinnlos abgeschlachtet haben, hat sich zusammengeschlossen, auch wenn das nicht so einfach war und ist. Mit Russland, in das Mariannes und mein Vater einmarschiert sind, pflegen wir heute freundschaftliche, wenn auch nicht immer unproblematische Beziehungen. Das sind Fortschritte. Fortschritte, die nicht nur einfach zwischen Politikern, Wirtschaftschefs und Militärleuten ausgehandelt werden. Ohne die Kontrolle und das Engagement der Bürger geht das nicht. Es hat eben doch einen Sinn, sich einzumischen, was zu tun, sich nicht alles gefallen zu lassen. Auch wenn man nicht gleich Erfolge sieht. Das war Mariannes Überzeugung; sie hat diese Überzeugung gelebt, sehr intensiv.

Rede von Herrn Christoph Boekel – Teil V

1984 wurde Marianne in die Akademie der Bildenden Künste in Berlin berufen, der sie bis zu ihrem Tod als Mitglied der Sektion Film und Medienkunst angehörte. Eine große Ehre, und eine wichtige Aufgabe.

Aus der Satzung: „Die Akademie der Künste ist eine von der Bundesrepublik Deutschland getragene Körperschaft des öffentlichen Rechts. Sie hat die Aufgabe, die Künste zu fördern und die Bundesrepublik Deutschland in Angelegenheiten der Kunst und Kultur zu beraten. Als eine internationale Gemeinschaft von Künstlern beruft die Akademie in geheimer Abstimmung Mitglieder, deren Werk auf dem Gebiet der Bildenden Kunst, der Baukunst, der Musik, der Literatur, der Darstellenden Kunst sowie der Film- und Medienkunst anerkannt wird. Dabei handelt es sich um Persönlichkeiten, die die Kunst ihrer Zeit prägen und von denen erwartet wird, dass sie an den Aufgaben der Akademie mitwirken.“

Marianne hat sich in die Akademie unter anderem mit Workshops und Seminaren eingebracht: „Der Faschismus in uns“, „Sind wir nur mehr Voyeure und Tele-Kommunikateure?“, „Angst essen Seele auf – vom Primatenhirn zum kreativen Vorderhirn“.

Zwei abendfüllende Kinospielfilme hat Marianne gemacht, den bereits erwähnten „Peppermint-Frieden“ und „Lilien in der Bank“. Davon kann man natürlich nicht Leben, sie hat deshalb hauptsächlich Filme fürs Fernsehen gedreht, Dokumentarfilme wie TV Spielfilme, viele davon gemeinsam mit ihrem Mann Gérard. Es würde hier viel zu weit führen, alle Arbeiten aufzuzählen, nur ein paar Beispiele: „Alice im Männerland oder tödlich gilt nicht“ (ZDF 1984), „Sonntagskind oder der Umstände halber“ (1987, ich meine, das sei auch ZDF gewesen), „August Mackes letzte Reise“ (1987 für den WDR), zudem Beiträge für das ZDF-Frauenmagazin Mona-Lisa: „Was wäre, wenn der Frieden ausbräche“, „Geburt“, „Gibt es weibliche Energie?“, „Hüterinnen der Erde“ – die Titel lassen ahnen, worum es geht. Aufklärende und warnende Filme zu ökologischen Themen hat Marianne bereits zu einem Zeitpunkt gedreht, als das Wort ‚Klimakatastrophe‘ noch unbekannt war und nur ein paar Spezialisten über drohende Trinkwasserknappheit auf unserem Planeten sprachen.

Selbst bei Magazinbeiträgen, die in der Branche oft etwas abfällig als ‚Brotarbeit‘ bezeichnet werden, hat Marianne größten Wert auf die filmische Gestaltung gelegt. Solche durchgestalteten Beiträge waren damals selten, weil sie viel Arbeit machen, die nicht extra bezahlt wird, heute sind sie vollkommen aus den Fernsehprogrammen verschwunden.

Drei Filme möchte ich noch erwähnen, alle drei mit und über den Sänger, Pianisten und Komponisten Konstantin Wecker, der heute gerne gekommen wäre und gespielt hätte, er ist leider durch eine längst geplante Tournee verhindert.

Das war 1983 der Film ‚Im Namen des Wahnsinns‘ über ein total ausverkauftes Konzert Weckers im Münchner Zirkus Krone. Ich erinnere mich gut, ich habe damals eine der vier Kameras bedient, mit denen das Konzert aufgenommen wurde. Der Film kam auch ins Kino.

Im selben Jahr hat Marianne den Dokumentarfilm „Begegnung Joan Baez – Konstantin Wecker‘ für das Bayerische Fernsehen gedreht.

Einen weiteren Film hat Marianne mit Konstantin Wecker gemacht, ein Portrait, 1998, kurz vor ihrem Tod. „Nur nicht ungefähr“ lautete der Titel. Also: nie lau sein, unbestimmt oder anpaßlerisch. Immer die Dinge klar benennen. Gedanken anstoßen und sich Diskussionen stellen. Da waren sich Marianne Rosenbaum und Konstantin Wecker Geschwister im Geiste. Wecker hat für wenigstens vier von Mariannes Filmen die Musik komponiert.

Marianne hat nicht nur an Filmprojekten gearbeitet, die dann finanziert und realisiert werden konnten. Sie hat auch Drehbücher und Exposés geschrieben, die anschließend in der Schublade landeten. Es gibt eine Faustregel in der Film- und Fernsehbranche: von 10 eingereichten Projekten werden höchsten zwei umgesetzt.

Rede von Herrn Christoph Boekel – Teil VI

Zwischen 1993 und 1995 hat Marianne den Kinospielfilm ‚Lilien in der Bank‘ gedreht, dessen Drehbuchentwicklung vier Jahre in Anspruch genommen hatte. Ein bildstarker Film zwischen Traum und Wirklichkeit, Marianne hat das Szenenbild Bild für Bild selbst gestaltet, jedes Detail musste stimmen. Präzise Kamera wie bei den meisten ihre Filme: Alfred Tichawsky. Eine hervorragende Besetzung, um nur einige zu nennen: Nina Hagen, Katharina Thalbach, Georg Thomalla, Werner Schneyder, Konstantin Wecker. Und der damals 12jährige Wenzel Brücher – er hat die Schauspielerei inzwischen zu seinem Beruf gemacht.

‚Lilien in der Bank‘ ist ein sehr komplexer Film geworden, der dramaturgisch auf mehreren Erzählebenen arbeitet. Marianne hat stark verdichtet ihre Lebensthemen eingebracht: den Krieg und die permanente Rüstung, die Milliarden verschlingt; den fehlgeleiteten Umgang mit der Natur und die Folgen für die belebte Sphäre; die ausufernde Geldwirtschaft, deren Folgen wir in der Bankenkrise gesehen haben; das Verhältnis der Geschlechter und Generationen zueinander; das Hineinzwängen von Kindern und Jugendlichen in Schemata; und die Verantwortungslosigkeit, mit der Gesellschaften mit der Zukunft umgehen. Nichts sollte ungesagt bleiben.

Und das war – meiner Meinung nach – zu viel, zu viel für einen Film. ‚Lilien in der Bank‘ ist vom Publikum nicht so angenommen worden, wie Marianne es sich gewünscht hatte. Nicht zu vergessen: zu Beginn der 90er Jahre waren durch den Anschluss der DDR und den Niedergang der Sowjetunion ganz neue Filmthemen in den Focus der Öffentlichkeit gerückt. Das passiert in der Filmwirtschaft mit ihren langen Vorläufen immer wieder und zeigt, auf welch brüchigem Eis Regisseurinnen und Regisseure arbeiten, wenn sie auch selbst die Produktion ihrer Filme übernehmen. Denn ein Kinofilm, selbst mit Fernsehbeteiligung und staatlicher Filmförderung, erfährt seine letztliche Refinanzierung an der Kinokasse.

1996 bekam Marianne einen Ruf als Gastprofessorin an die Hochschule für Film und Fernsehen ‚Konrad Wolf‘ in Potsdam/Babelsberg bei Berlin. Die Arbeit hat ihr Freude gemacht, sie war eine mitreißende Pädagogin und sehr beliebt bei ihren Studenten. 1998/99 hätte die Gastprofessur in eine ordentliche Professur umgewandelt werden sollen. Dazu ist es durch Mariannes Krebserkrankung nicht mehr gekommen.

Marianne Rosenbaum ist am 29. Oktober 1999 im Alter von 59 Jahren gestorben.

Drei Jahre vor ihrem Tod wurde sie in einem Interview nach ihrer Vision, ihren Wünschen für die Zukunft gefragt. Sie gab zur Antwort: ‚Dass Menschen liebevoll und behutsam miteinander umgehen, dass die Grenzen beweglich sind; dass wir erkennen, dass alles in Bewegung ist, dass wir uns jeden Tag neu überlegen, wie es weitergeht, dass wir unsere Gesetze neu überdenken, unser Verhalten reflektieren. Dass wir unseren Lebenslauf nicht als Käfig und vorgetimed akzeptieren: erst Kindergarten, dann Vorschule, Schule, vielleicht Universität, dann irgendwann Pensionsberechtigung – und dann bist Du tot. Dass wir noch mit 80 Jahren studieren können, wenn wir wollen. Dass wir Wünsche wünschen lernen und dabei wissen, dass Wünsche Konsequenzen haben, wie Gedanken, die wir denken – und Wörter, die wir aussprechen. Diese Konsequenzen sind die ideellen Gebäude der Zukunft.‘

‚Ideelle Gebäude der Zukunft‘, das sind eben auch Schulen – so hat Marianne Rosenbaum es gemeint.

Ich danke Ihnen für Ihre Geduld, und für Ihre Aufmerksamkeit.